Aufbruch ins Ungewisse (externer Beitrag)
Nachdem Victor es einigermaßen ereignislos bis vor die Stadttore Selems geschafft und in einem kleinen, sumpfigen Baumbestand Zuflucht gesucht hatte, begann er seine Möglichkeiten abzuwägen. Ein weiterer Versuch das Manuskript zu entwenden kam angesichts seiner eher bescheidenen Diebeskünste und der Tatsache, dass er bald in der ganzen Stadt gesucht werden würde, nicht in Frage. Die sofortige Rückkehr nach Hause oder zu seiner Angebeteten stand ebenso nicht zur Debatte, würde man ihn doch dort als erstes vermuten und außerdem dann wohl kaum freundlich empfangen.
Nun war er nicht nur ein Bastard ohne Land und mit wenig Geld, sondern auch noch ein gesuchter Verbrecher. In seiner Arroganz und Selbstüberzeugung war sein Entschluss jedoch schnell gefasst – warum nicht das Beste aus den gegebenen Umständen machen und die gelernten und ihm gegebenen Fähigkeiten perfektionieren? Für einen Magier mit Interesse an den dunklen Künsten war ein phexgefälliger Lebensstil ohnehin viel dienlicher als das brave bürgerliche Leben. Er bot schlichtweg zahlreiche Entfaltungs- und Finanzierungsmöglichkeiten mehr für die benötigten „Forschungsmittel“. Und mit den entsprechenden Fertigkeiten würde er dann auch wieder hierher zurückkehren und seine Aufgabe abschließen können. Ihm stellte sich nun also nur noch die Frage, wo das Diebeshandwerk am besten zu erlernen sei. Da sich in die nahegelegenen Städte
des Südens die Nachricht seiner Missetat am schnellsten verbreiten mochten und er zudem kein weiteres Aufsehen so nah an seiner Heimat erregen wollte, schlug er den Weg gen Firun ein. Sein Ziel waren die großen Städte des fernen und für ihn nur aus Geschichten Bekannten Mittelreichs. Wo viele Menschen lebten, konnten auch viele Menschen untertauchen und es war schließlich
allgemein bekannt, dass beispielsweise Gareth und Havena eigene Diebesgilden aufwiesen.
Er wählte seinen Weg zunächst weit ab der großen Karawanenrouten und Handelsstraßen um etwaigen Verfolgern keine leichte Beute zu sein und kam so oft durch kleine Weiler. Dort nutze er seine Heilkenntnisse um einige Bauern von ihren Leiden zu befreien und sich so immer wieder eine warme Mahlzeit oder einen Schlafplatz zu sichern. Trotz seiner offensichtlichen Hilfsbereitschaft waren die meisten seiner Gastgeber froh hinter ihm die Tür wieder schließen zu können. Fragte man die Anwohner später nach einer Beschreibung des Magiers Victor, erhielt man oft ängstliche oder aber wütende Aussagen über einen düsteren Burschen, der meinte wegen seiner Fähigkeiten wie ein König hofiert werden zu müssen. Seine außergewöhnlichen Fertigkeiten und die Wirksamkeit der teilweise unerklärlichen Heilverfahren konnte aber niemand abstreiten.
Überall, wo er die Möglichkeit dazu hatte (was angesichts der kleinen Ortschaften selten der Fall
war), fragte er vorsichtig nach Lehrbüchern zur Diebeskunst und Hinweisen über eine weitere Ausgabe des von seiner Geliebten begehrten Manuskriptes. Beides jedoch mit mäßigem, ja eigentlich völlig ohne Erfolg. Ganz wie es seine Art war, glaubte er, sich die benötigten Fähigkeiten schlicht anlesen und bei seiner Ankunft in einer der großen Städte bereits meisterhafte Raubzüge zu begehen zu können.
Eines Nachts sandte Phex ihm jedoch einen Traum, der ihn einiges lehren sollte: Er hörte dumpfe Schritte auf den nassen Pflastersteinen, hörte schwere Stiefel, die immer wieder platschend in Pfützen traten. Durch den dichten Nebel, der durch das Hafenviertel einer Stadt, die er unerklärlicherweise als Havena erkannte, waberte, konnte er keine zehn Schritt weit sehen. Wo genau waren seine Verfolger? Wie konnte er entkommen? So großen Ärger hatte er noch nie gehabt. Auf seine Augen konnte er sich jedenfalls im Nebel kaum verlassen und auf sein Gehör noch viel weniger. Zu viele Geräusche hallten in den Straßen wider, das Fauchen einer Katze, der Flügelschlag eines krächzenden Raben – und die Schritte, die sich ihm aus allen Richtungen gleichzeitig zu nähern schienen …