03. Peraine 1020 BF
Tsadan reißt mich aus meinen trübseligen Gedanken. Er teilt uns mit, dass er, wie so oft, für unsere Auslagen aufkommen wird und marschiert dann in das große und offenbar einzige Gasthaus hier. Drinnen prasselt ein Kamin und verbreitet wohlige Wärme und ich stelle fest, dass es direkt daneben sogar ein großes Fenster aus echtem Glas gibt. Mir scheint, dass das Gasthaus hier ziemlich gut zu laufen scheint. Aber das ist ja auch nicht verwunderlich. Jarrlak ist ein wichtiger Ort für Pilger.
Das leise Grummeln in meinem Magen, welches sich gerade einstellt, unterscheidet sich von dem, welches ich zuvor auf der Reise hatte. Ich glaube, ich habe Hunger. Ziemlich großen sogar. Ich studiere die Speisekarte, die uns der Wirt gebracht hat, sie ist auf echtem Papier geschrieben, und bestelle dann, worauf ich gerade Appetit habe. Wie gut, dass Tsadan zahlt, die Preise sind ordentlich gesalzen hier. Ähnlich gesalzen wie der Fisch, den ich mir bestellt habe.
Erst die irritierten Blicke der anderen machen mir klar, dass sich mein Geschmack offenbar gerade auf ein wenig seltsamen Pfaden befindet. Auf meinem Teller liegen neben dem salzigen Räucherfisch noch Marmelade, Quark, Käse und Essiggurken, daneben steht ein Glas warme Milch mit Honig. Aber es schmeckt ausgesprochen gut und zusammenpassend. Ob das typisch für eine Schwangerschaft ist? Ich muss zugeben, darüber habe ich mir bislang noch nie wirklich Gedanken gemacht und mit meinen Patientinnen habe ich über solche Themen auch nie gesprochen. Ich frage mich, ob ich diese Beobachtungen, diese Erfahrungen, die ich gerade selbst machen kann, vielleicht in einem Ratgeber festhalten sollte. Wenigstens ein paar Notizen sollte ich mir vielleicht dazu machen. Damit ich nicht am Ende noch etwas Wichtiges vergesse.
Apropos Notizen, ich habe das Gefühl, dass ich ein wenig unaufmerksam geworden bin in letzter Zeit, dass meine Gedanken viel zu oft in die Ferne schweifen, ich höre gerade noch, wie Tsadan erzählt, dass der letzte Bronnjar, Joost Opp von Jarrlak, laut Tsadan noch zu den Zeiten seines Großvaters, dem Vater Isidors, sein Lehen hier verlassen habe auf der Suche nach Oblomon. Als er auch zwölf Götterläufe nach seinem Aufbruch nicht mehr zurückgekommen war, wurde er für tot erklärt und seitdem ist es der Ifirnkirche hier gelungen, sämtliche Bronnjarenanwärter für unwürdig zu befinden, dafür zu sorgen, dass sich kein neuer Bronnjar hier ansiedelt.
Oblomon. Ich erinnere mich, wir sind hierhergekommen, um Hinweise darüber zu finden, wie wir nach Oblomon gelangen können.
Ugdan hat mittlerweile ganze 38 Katzen und einen Luchs bei sich und alle werden gerade vom Wirt mit einem Schälchen Milch verköstigt. Ich frage mich immer noch, warum Ugdan so eine anziehende Wirkung auf Katzen hat. Der bestellt gerade Wein beim Wirt und sagt, dass die letzte Taverne, die ihm schlechten Wein aufgetischt habe, abgebrannt sei. Hat er dem Wirt gerade gedroht? Irritiert frage ich ihn direkt, ob ich mich verhört habe und er meint, dass dem nicht so sei. Ugdan fügt jedoch hinzu, dass er die Taverne nicht selbst angezündet hätte und dass dies eine lange Geschichte sei.
Irgendwie fühle ich mich gerade nicht dazu in der Lage, eine lange Geschichte mental aufzunehmen und außerdem brauche ich ein wenig frische Luft. Als ich aufstehe und mich anschicke, etwas spazieren zu gehen, bietet Rondrasil an, mich zu begleiten, was ich erfreut annehme. Wir gehen an dem See entlang, welcher mit Laternen romantisch beleuchtet ist. ich habe den Eindruck, dass mein Gatte gelöster wirkt, befreiter und auch ich fühle mich irgendwie leichter. Die ganze Umgebung hier wirkt irgendwie magisch, aber ich kann nicht genau greifen, was es ist.
Während ich diese idyllische Szenerie tief in mich aufzunehmen versuche, wer weiß, wann ich das nächste Mal solch einen inneren Frieden verspüre, fällt mir auf, dass selbst die Schwäne, die auf dem See schwimmen, schwarzes Gefieder und rote Schnäbel bekommen haben. Nicht nur die Geweihten, auch die Schwäne, die heiligen Tiere der Ifirn, trauern um Ilonen. Ich frage mich, wie die Geweihten hier reagieren würden, wenn sie die genauen Umstände von Ilonens Tod wüssten, wenn sie erführen, dass es meine Schuld ist, dass sie nicht mehr unter uns weilt. Würden sie Güte zeigen und mir verzeihen? Würden sie verstehen, dass mein Herz entschieden hat, ich meinen Mann retten musste?
Rondrasil reißt mich aus diesen Gedanken, er fragt mich, ob ich wusste, dass die Ifirnkirche es geschafft hat, dass hier im Wald jeder jagen darf, selbst die Leibeigenen und dass diese im Winter sogar Pelz tragen dürften, um sich vor der Kälte zu schützen. Das war mir bislang unbekannt, aber es zeugt von Ifirns Güte und lässt mich hoffen, dass, sollten die Geweihten jemals die Wahrheit erfahren, auch mir mit Güte begegnen werden.
Wir gehen auf unser Zimmer, ein kleines aber doch recht gemütliches Zimmer mit großem Doppelbett und ich schmiege mich eng in die Arme Rondrasils, versuche mich zu konzentrieren, zu meditieren und keine schlechten Gedanken aufkommen zu lassen, bis ich einschlafe. Ich will diese friedliche Stille bewahren so gut es mir möglich ist.
04. Peraine 1020 BF
Ich hatte einen Albtraum. Wie eigentlich jede Nacht. Aber dieser unterschied sich von den vorherigen. Ob es daran liegt, dass die anderen jetzt offiziell Bescheid wissen über meinen körperlichen Zustand? Ich habe geträumt, dass ich gleich zwei reanimierte Totgeburten auf die Welt gebracht habe und dass das Mädchen Algunde ähnlich gesehen hat, während der Junge Mengbillar glich. Ich war noch nie so froh, dass mein Mann mich geweckt hat, wie heute. Sicher, Albträume sind nie schön, aber dieser war besonders beängstigend.
Nachdem ich mich ein wenig beruhigt und frisch gemacht habe, gehen wir gemeinsam nach unten zum Frühstück, wo die anderen bereits sitzen. Alle bis auf Fredo, aber ich vermute, dass er vielleicht noch schläft. Und wenn die Marbiden ähnlich denken wie die Boroni, dann werde ich mich hüten ihn zu wecken.
Mir war wohl für einen Moment entfallen, weshalb wir hier sind, denn als ich nachfrage, was wir jetzt tun wollen, erklärt mir Ugdan leicht genervt, dass wir hier nach Hinweisen über die genaue Lage Oblomons suchen, ob ich das vergessen hätte. Stimmt, Oblomon, niemand weiß genau, wo es liegt, niemand, der dorthin aufgebrochen ist, kam zurück um davon zu berichten, ich erinnere mich.
Ugdan erzählt gerade beinahe beiläufig, dass er die Lizenz für ein Zweitstudium an der Akademie in Gareth habe. Einer Akademie der weißen Gilde. Ugdan. Der Magier aus Lowangen, der Schwarzmagier. Und er darf in Gareth studieren? Wie hat er das angestellt? Ach ja, richtig, er kennt Prinz Brin, das war mir damals bei der Befragung zu Kolkja bereits aufgefallen, ich bin mir sicher, dass der seine Finger im Spiel hat. Ich frage mich, warum Ugdan dann noch nicht sein Zweitstudium angetreten hat, was hält ihn eigentlich hier?
Und wieder war ich in meinen Gedanken versunken. Als ich aufhorche, merke ich, dass Ugdan sich mit Kolkja unterhält. Über deren gemeinsame Vergangenheit. Kolkja scheint sich an manche Dinge zu erinnern und an manche nicht. Erinnern, etwas, das mir im Moment irgendwie auch schwerer zu fallen scheint. Tsadan trinkt bereits in der Früh übermäßig Alkohol. Aber das könnte auch ein gutes Zeichen sein, vielleicht lässt er endlich seine Trauer um Nadira zu. Es nagt immer noch sehr an mir, dass ich ihm nicht sofort gesagt habe, dass ihre Seele nicht mehr bei Kolkja ist. Ich sollte bei Gelegenheit mit Ugdan darüber sprechen.
Aber nicht jetzt. Jetzt will er mit Pjerow das große steinerne Haus, welches Herrenhaus genannt wird, durchsuchen, dort hat der letzte Bronnjar gelebt. Vielleicht hat er ja irgendwelche Informationen bezüglich Oblomon hinterlassen, die uns dabei helfen könnten, selbiges zu finden. In der Zwischenzeit werden mein Gatte und ich uns den Ifirntempel ansehen. Auch Hemidane und Ifrundoch wollen uns dabei begleiten, während Tsadan wohl weiterhin dem Alkohol zusprechen wird.
Ich habe ein wenig das Gefühl, dass ich schneller außer Atem bin. Vielleicht habe ich aber auch einfach den Hügel etwas unterschätzt, auf dem der Tempel steht. Oben angekommen werde ich aber für sämtliche Mühen entschädigt, die Aussicht ist atemberaubend schön. Die leichte Schneedecke auf den Häusern glitzert in der Sonne, reflektiert das Licht abertausende Male, es tut beinahe in den Augen weh. Auch im See spiegelt sich die Sonne, wirft malerisch schöne Lichtspiele an die Wände der Hütten.
Es fällt mir direkt schwer, den Blick abzuwenden, so schön ist es hier. In mir keimt der Gedanke, wie schön es wäre, hier zu wohnen, ich sollte das bei Gelegenheit mit Rondrasil besprechen. Dieser zieht mich jedoch gerade sanft in Richtung Tempel, vor dessen Eingang eine lebensgroße Statue aus Holz steht, die laut Inschrift Jarrlak zeigt. Jenen Jarrlak, der die Ifirnkirche vor gut eintausend Götterläufen gegründet hat. Er war groß, hager und irgendwie wenig ansehnlich, eher ausgezehrt, beinahe schon hässlich. Aber nun gut, ich bin auch nicht gerade eine Schönheit, viel zu kurz geraten und mein Gesicht weist beinahe schon mehr Narben auf als das manches Kriegers, ich frage mich manchmal, was Rondrasil überhaupt an mir findet.
Als wir den Tempel betreten, vergesse ich, mir weiter Gedanken darüber zu machen, warum Rondrasil sich für mich entschieden hat, denn der Anblick des Tempeldaches lässt mich alles andere vergessen. Im Dach sind diverse Fenster aus Glas, die die Form von Schwänen oder Schneeflocken aufweisen. Künstlerisch ist das definitiv ein Meisterwerk, das erkenne selbst ich. Aber dieses Mal erinnere ich mich, weshalb wir hier sind, weshalb ich den Geweihten, der auf uns zukommt, unverblümt frage, ob er nicht zufällig eine Reserveeisrose hier hätte. Leider verneint er dies, weshalb ich ihn frage, ob er uns sagen könnte, wo wir Oblomon finden könnten.
Der Geweihte teilt uns mit, dass er selbst uns da nicht helfen könnte, winkt aber einen Halbelfen heran, der von sich selbst sagt, dass er Joost Opp noch persönlich gekannt habe. Ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie alt manche Kreaturen hier auf Dere doch werden können. Der Geweihte erzählt uns, dass Jarrlak aus Oblomon zwölf Pfeilspitzen mitbrachte, welche er uns auch zeigt. Sie sind aus einem schwarzen Metall und laut dem Geweihten könnten sie alles durchschlagen, ohne Ausnahme jedes Material. Offenbar sind diese Pfeilspitzen aus Schwarzstahl, dem gleichen Stahl, aus dem die Shakagrarüstungen sind. Glaube ich zumindest.
Der Geweihte erzählt weiter, dass Jarrlak sich selbst erhängt habe, als er ungefähr 105 Götterläufe gezählt haben muss. Er muss das geplant haben, denn kurz vor seinem Tod hat er genau verfügt, was mit seinen Habseligkeiten passieren soll. Einen Teil hat er dem Tempel vermacht, während der andere Teil mit seinen Gebeinen in der Stadt der Toten beigesetzt werden sollte. Der Baum, an welchem er sich erhängt hat, steht immer noch hinter dem Tempel. Dies lässt Ifrundoch aufhorchen und er bittet den Geweihten, uns den Baum zu zeigen.
Der Baum selbst ist schon lange tot, aber er scheint eine Art Gebetsstätte geworden zu sein, zu seinen Füßen sind etliche abgebrannte Kerzen zu sehen und jede Menge Ifirnbildnisse, die meisten aus Birkenrinde geschnitzt. An einem Ast hängt sogar noch das, mittlerweile halb verrottete, Seil, an dem Jarrlak gehangen haben soll. Reichlich makaber, wie ich finde.
Als der Geweihte uns erzählt, dass der Geist Jarrlaks einmal im Jahr hier vor dem Altar erscheinen würde, um genau eine Frage zu beantworten, werde ich hellhörig. Insbesondere als er erzählt, dass dies immer während der Namenlosen Tage geschieht. Als ich den Geweihten frage, wie er darauf kommt, dass es sich um Jarrlak handele, gerade er müsste doch wissen, dass man während dieser verfluchten Tage nichts glauben dürfe, antwortet dieser nur, dass die Antworten immer richtig gewesen seien.
Sie machen immer eine große Verlosung, wessen Frage gestellt werden darf und letztes Jahr habe ein Alrik gefragt, ob er lieber Jette oder Beernja heiraten solle. Auf meine Frage, was daran richtig oder falsch sein soll, antwortet mir der Geweihte, dass Alrik die geheiratet habe, die Jarrlak ihm genannt habe und dass die andere ein paar Wochen danach an der blauen Keuche verstorben sei. So viel Aberglaube hätte ich selbst einem Bornländer nicht zugetraut, ich will mich gerade in Rage reden darüber, da zieht mein Mann mich auf die Seite, weist mich an, tief durchzuatmen, mich nicht aufzuregen.
Nachdem ich mich tatsächlich wieder ein wenig beruhigt habe, erzählt er mir, dass er sich im Tempel den Göttern nicht so nah fühlen würde, wie hier draußen. Dies irritiert mich, schlimmer noch, es verschafft mir ein ungutes Gefühl. Als ich Rondrasil mitteile, dass ich kein gutes Gefühl bei der Sache habe, antwortet dieser mir, dass es mein gutes Recht sei, kein gutes Gefühl zu haben. Was ist das denn bitte für eine nichtssagende Antwort. Er muss die Zusammenhänge doch auch sehen, oder etwa nicht? Die Shakagra, die Stadt der Toten, das alles hängt mit dem Namenlosen selbst zusammen, das muss er doch erkennen.
Irritiert und wütend gehen ich mit Rondrasil zusammen zurück zu Hemidane und Ifrundoch. Dieser fragt den Geweihten gerade, ob er die Hinterlassenschaften Jarrlaks sehen könnte. Ich muss ein wenig schmunzeln, als ich diese Formulierung höre, mein Ärger verraucht dadurch recht schnell.
Der Geweihte bringt uns diverse Bücher, Pfeile ohne Spitzen mit weißen Federn, vermutlich Schwanenfendern, feste Schuhe und ein Jagdmesser. Die Bücher sollte ich mir wohl durchlesen, doch als ich darum bitte, sie mir auszuleihen, teilt mir der Geweihte mit, dass diese Bücher den Tempel nicht verlassen dürften, ich sie nur hier lesen könne. Dieser Gedanke behagt mir nicht sonderlich, weshalb ich vorschlage, dass wir erst einmal etwas zu Mittag essen sollten. Mein Magen knurrt schon wieder hörbar und, den Göttern sei Dank, stimmen die anderen zu, dass eine Pause nicht verkehrt wäre.
Im Wirtshaus angekommen tischt mir der Wirt bereits ohne zu fragen Essiggurken auf. Die schmecken wahrlich köstlich. Pjerow und Kolkja sitzen auch bereits an einem der Tische und Pjerow setzt uns darüber in Kenntnis, was er und Ugdan im Herrenhaus vorgefunden haben. Auf meine Frage, wo Ugdan sei, antwortet er mir, dass der sich im Herrenhaus noch ein wenig ausruhen würde.
Das Herrenhaus wird wohl seit der Abwesenheit eines Bronnjars hauptsächlich als Lagerraum für Fleisch und Felle genutzt, zumindest war in der Eingangshalle beim Eintreffen der drei alles voller Gestelle, auf denen Fleisch trocknete. Kolkja wirft ein, dass das Fleisch jetzt jedoch nicht mehr da sei, weil die Katzen alles gefressen hätten.
Eine sehr alte Frau, bestimmt schon achtzig oder neunzig Götterläufe zählend sei die Verwalterin des Hauses, sie habe damals noch unter Joost Opp gearbeitet und hätte nach dessen Verschwinden von der Ifirnkirche den Auftrag bekommen, sich um das Haus zu kümmern. Während sie Pjerow und Ugdan zum Arbeitszimmer des Bronnjaren geführt hat, hat sie erzählt, dass dieser nach Oblomon gegangen sei, um dort den legendären Schwarzstahl abzubauen, weil die Ifirngeweihten ihm gesagt hätten, dass dieser dort zu finden sei.
Im Arbeitszimmer haben die beiden dann diverse Schriftstücke sichergestellt, unter anderem auch einige Karten, auf denen verschiedene mögliche Standorte Oblomons verzeichnet worden sind. Auch ein Brief von Isidors Vater an Joost Opp sei dabei gewesen, in dem er ihm von der Reise abgeraten habe. In der Kiste, in der Pjerow auch die Karten gefunden hat, lagen auch etliche Zinnsoldaten und anderer Krimskrams, der, laut Aussage der Alten, vorher hier im Arbeitszimmer gehangen habe, bis die Ifirnkirche gekommen sei und aufgeräumt hätte. Sie hat dabei wohl auch ein paar Dinge mitgenommen, unter anderem ein Teleskop.
Pjerow erzählt weiter, dass sie auch ein Medaillon mit einem Bild von Joost gefunden haben und eine Werbung für die damalige Adelsmarschallswahl. Die Großmutter Mikhails hatte sich damals wohl auch zur Wahl gestellt. Ugdan habe dann laut Pjerow einen Suchzauber gewirkt, ich vermute, dass es sich um einen Odem handelt, weshalb er sich jetzt noch etwas ausruhen müsste. Wenn er tatsächlich fast das halbe Haus mittels Odem durchsucht hat, wundert mich das nicht.
Bei seiner Suche haben die beiden einen Gürtel gefunden, der latent magisch zu sein scheint laut Ugdans Aussage. Als dieser sich dann auf das Bett gelegt habe, um sich auszuruhen, sei Pjerow dann aufgefallen, dass in der Matratze etwas versteckt worden ist. Neben der Chronik derer von Opp waren auch etliche Pergamente dort. Leider sind einige Pergamente dabei unwiderruflich zerstört worden, aber ein paar, insgesamt vier an der Zahl, waren tatsächlich noch lesbar.
Auf dem ersten stand „Laut Studien ist der Zugang zum Ort nur an bestimmten Tagen möglich. Firunfeiertage. Feiertage anderer Götter?“. Auf dem zweiten Pergament war „Wenn man von einem Ort nichts mehr hört, der über ein solches Vermögen wie den Schwarzstahl verfügt hat, muss ein großes Unglück passiert sein“ zu lesen, während auf dem dritten „irgendwo zwischen Eismeer und dem ehernen Schwert, vermutlich nahe einer anderen Zivilisation aber auch im Gebirge“ stand. Auf dem letzten Pergament konnte man noch „war Jarrlak wirklich der, der er vorgab zu sein, oder hat er sich mit finsteren Mächten eingelassen, um Oblomon zu entkommen?“ lesen.
Hemidane wirft die Frage in den Raum, warum Ifirn sich mit Jarrlak eingelassen hat, der doch wahrlich nicht der Hübscheste war. Wenn Ilonen, eine Viertelgöttin, bereits so unfassbar schön ist, wie anmutig muss dann erst eine Halbgöttin aussehen? Vielleicht kann Ugdan Ilonen dazu ja mal befragen. Dieser kommt just in diesem Moment in das Wirtshaus und setzt sich zu uns. Als hätte er gewusst, dass wir gerade über ihn reden.
Wir erzählen Pjerow und Ugdan, was wir im Tempel erfahren haben, unter anderem auch davon, dass irgendetwas nicht stimmt mit dem Tempel, dass mein Mann sich dort den Göttern ferner fühlt als draußen vor dem Tempel, doch als die Rede auf den Geist Jarrlaks kommt, fällt uns Kolkja ins Wort, weil er den Geist unbedingt sehen will.
Es entbrennt eine Diskussion, ob das so eine gute Idee ist, Kolkja in dessen Nähe zu lassen, gerade nachdem wir uns nicht sicher sind, ob der Geist tatsächlich der von Jarrlak ist und ob Jarrlak wirklich der war, der er vorgab zu sein. Selbst der letzte Bronnjar hatte seine Zweifel. Tsadan, der mittlerweile gut angetrunken ist, erzählt uns, dass Schwarzstahl, besser gesagt das Endurium, aus welchem er gefertigt wird, eigentlich nur auf Maraskan vorkäme, aber das passt nicht zu den Aufzeichnungen, die wir gefunden haben und wir haben die Pfeilspitzen selbst gesehen.
Es stellt sich auch die Frage, warum Jarrlak die Rose im Firuntempel gelassen hat, sie nicht hierher gebracht hat. Wollte er am Ende die heilige Rose vor sich selbst schützen und hat den Ifirntempel deswegen mitten im Nirgendwo erbaut? Irgendetwas stimmt hier nicht, aber ich kann nicht sagen, was es ist und auch die anderen sind ratlos.
Ugdan teilt uns mit, dass er wieder meditieren gehen wird, während Ifrundoch ein wenig durch den Wald streifen will. Pjerow will sich die Chronik des Bronnjaren ansehen, weshalb es mir zufällt, mir die Bücher im Tempel anzusehen. Ich bin zwar nicht sonderlich begeistert, aber nun gut, irgendjemand muss sie ja sichten. Ich bin aber dennoch sehr froh, dass mein Mann sich anbietet, mich zu begleiten.
Nachdem es im Tempel merklich kühler ist, als draußen, packe ich mich im Vorfeld sehr dick ein, ich gebe bestimmt ein lustiges Bild ab in meinem Wintermantel mit den dicken Stiefeln und der Pelzmütze, aber Hauptsache ich friere nicht.
Zuerst nehme ich mir das zwölfgöttliche Brevier vor, in dem ich anfangs nicht außergewöhnliches finden kann. Erst auf der Seite von Firun fallen mir Notizen auf, die über die ganze Seite verteilt worden sind, wenn ich mich nicht irre, könnte es sich um die alte Alaani Schrift handeln, aber ich kann sie leider nicht entziffern. Ich kann zwar Alaani sprechen, aber heutzutage verwenden sie auch Kusliker Zeichen. Ich male die Zeichen ab und werde nachher Tsadan fragen, ob er altes Alaani lesen kann. Wenn nicht, dann muss ich in Norburg Elra fragen, sie kann das sicherlich noch lesen. Aber vielleicht kann ja auch einer der Geweihten hier lesen, was hier steht.
Meine Hoffnungen werden leider enttäusch, aber nun gut, es gibt ja noch mehr Leute, die ich fragen kann. Aber zuerst sollte ich die anderen Bücher durchgehen. Im Firunvademecum ist ganz vorne zu lesen, dass dieses Buch nur an Geweihte auszugeben ist und dass jeder, der es findet, es umgehend an einen Firuntempel geben soll. Rondrasil erklärt mir, dass manche Kirchen mit ihrem Vademecum ähnlich geheimnisvoll umgehen, insbesondere da darin detaillierte Angaben zur Ausbildung drin stehen. Auf meine Frage, was in seinem Rondravademecum steht, holt er es aus seiner Tasche hervor und zeigt es mir. Er erzählt stolz, dass er es selbst geschrieben hat und ich stelle anerkennend fest, dass nicht ein einziger Tintenklecks zu sehen ist, seine Handschrift ist äußerst akkurat. Das ist mir vorher gar nicht aufgefallen.
Ich frage mich, warum ein Ifirngeweihter ein Firunvademecum besitzt, aber vielleicht war Jarrlak ja vorher Firungeweihter? Irgendetwas muss er ja vor Ifirn gewesen sein, oder? Beim Ifirnvademecum fällt mir auf, dass der Verfasser auch das Firunvademecum geschrieben hat, die Handschrift ist identisch. Mir fällt auch auf, dass an manchen Stellen radiert worden ist, dass man Passagen ausgebessert hat. Allgemein sind etliche Passagen sehr an das Firunvademecum angelehnt, es wirkt so, als hätte der Verfasser das Firunvademecum erst abgeschrieben, um es dann nach und nach an Ifirns Belange anzupassen. Nun, irgendwie muss man ja schließlich anfangen, oder?
Im Buch, das die Gründung des Tempels beschreibt, finde ich einige interessante Informationen, die ich nachher unbedingt den anderen mitteilen muss. Der Tempel wurde zur Theaterritterzeit vor gut eintausend Götterläufen gegründet. Jarrlak hat von Ifirn die Eisrose erhalten, nachdem er in Oblomon war und hat im Anschluss das ganze Bornland bereist. Mit der Eisrose hat er jeden Ort, durch den er gekommen ist, gesegnet und er hat jedem Bornländer die Eisrose gezeigt, um Ifirn zu legitimieren und seine Schuldigkeit zu tun. Mir fällt auf, dass die Schrift bei der Erwähnung Oblomons äußerst fahrig wirkt, beinahe so, als hätte der Schreiber eine tiefe Abneigung verspürt, diesen Ort überhaupt zu erwähnen. Im Anschluss habe Jarrlak dann die Rose nach Bjaldorn in den Firuntempel gebracht, weil sie Ifirn dort am besten dienen könnte, bevor er hierhergekommen sei und den Tempel gegründet hat.
Diese Zeilen zeigen deutlich, dass Jarrlak eine äußerst firungläubiger Mensch gewesen ist, das würde auch das Firunvademecum erklären.
Das letzte Buch nennt sich „Worte von Jarrlak“ und darin steht folgendes geschrieben: „Nachdem ihr der Schrein nicht genug war, baute ich eine Blockhütte. Doch auch diese war ihr nicht genug. Deswegen baute ich ihr ein Haus aus Stein, doch auch dieses war ihr nicht genug. Ich baute ihr ein größeres Anwesen aus Birkenholz mit Verzierungen, Prunk und Schmuck und auch das war ihr nicht genug. Dann kam Opp und fand den Tempel. Er wunderte sich, warum hier mitten im Nirgendwo ein Tempel ist und ließ sich im Steinhaus nieder. Kurz danach kamen weitere und weitere, der Ort florierte im Glauben an Ifirn. Doch auch das war ihr nicht genug. Es war immer noch nicht genug, meine Schuld lastet zu schwer auf meinen Schultern.“
Welche Schuld hat Jarrlak auf sich geladen? Warum hat Ifirn ihm nicht verziehen? Was hat er versucht, wiedergutzumachen? Und wenn Ifirn ihrem größten Anhänger und Verantwortlichen dafür, dass die Menschen überhaupt an sie glauben, nicht vergeben konnte, können die Ifirngeweihten dann überhaupt jemals mir vergeben, dass ich Ilonen nicht gerettet habe?
Wenn ich mich nicht täusche, dann ist Ifirn, die zuerst als Mensch auf die Welt kam, vor etwa eintausend Götterläufen, zur Theaterritterzeit also, nach Alveran aufgestiegen. Hat Jarrlak sie vielleicht unmittelbar davor, noch als Mensch, getroffen und ihr irgendein Leid angetan?
Ich komme nicht dazu, diesem Gedanken weiter nachzugehen, denn ein plötzlicher Tumult entsteht vor dem Tempel. Das charakteristische Rasseln eines Verletzten, der Flüssigkeit in der Lunge hat, sorgt dafür, dass sich meine Sinne schärfen. Ich packe meinen Stab und eile nach draußen. Dort steht Ifrundoch, über seiner Schulter hängt ein halbtoter Ifirngeweihter, auf seinen Armen trägt er ein kleines Mädchen, das vielleicht fünf Götterläufe zählen mag und einen weinenden Jungen, der ungefähr zehn Götterläufe alt sein dürfte und dem ein Pfeil im Bein steckt.
Bei der Versorgung von Verletzten fühle ich mich sicher, man könnte beinahe sagen, ich fühle mich wohl. Ich weiß, was zu tun ist und reagiere beinahe schon mit schlafwandlerischer Sicherheit. Der Ifirngeweihte ist dem Tode nahe, weshalb ich beschließe, den Balsam in meinem Stab zu aktivieren, um ihn von der Schwelle Borons zurück zu reißen. Nachdem der Geweihte so weit stabilisiert ist, dass ich mir keine Sorgen um ihn machen muss, wende ich mich dem Jungen zu und wirke einen starken Balsam auf sein Knie, welches völlig zertrümmert worden ist.
Der Junge guckt mich mit großen Augen an und fragt, ob ich gerade gezaubert hätte, was ich bejahe. Er erzählt dann, dass vor einiger Zeit schon einmal ein Zauberer hier war, der bunte Lichter gezaubert hatte. Ich beiße mir auf die Zunge und verkneife mir die verächtliche Bemerkung, dass es sich mit Sicherheit um einen Scharlatan gehandelt hat und muss schmunzeln, denn der Junge fährt fort und sagt, dass er Aua wegzaubern Zauber viel besser fände als bunte Lichter.
Nachdem ich mich vergewissert habe, dass es dem Jungen gut geht, wende ich mich noch einmal dem Geweihten zu und verbinde seine restlichen Wunden profan. Dieser erzählt verwirrt davon, dass ein Bär die Kinder angreifen wollte und dass er sich dem Bären entgegen gestellt hätte. Dies würde zu seinen Verletzungen passen und nach und nach ergibt sich das ganze Bild.
Ifrundoch ist ziemlich wütend auf den Geweihten, da er dieser Bär gewesen ist, weil die Kinder ihn gefragt haben, ob er sich verwandeln könnte und er ihnen einen Gefallen tun wollte. Ich versuche zu vermitteln, da der Geweihte noch ziemlich jung ist, laut Aussage des Tempelvorstehers ist er vor einigen Wochen noch ein Novize gewesen und es gelingt mir, die Situation zu deeskalieren. Der Geweihte hatte die Situation einfach völlig falsch eingeschätzt und gedacht, dass die Kinder in Gefahr sind. Dafür hat er sehr mutig gehandelt, wie ich finde.
Auch der Tempelvorsteher ist dieser Meinung, macht Ifrundoch auch keinen Vorwurf, dass dieser als Bär den jungen Geweihten beinahe getötet hat. Den Göttern sei Dank war ich anwesend und konnte verhindern, dass etwas Schlimmeres passiert ist. Ich glaube, dass dies mit ein Grund dafür ist, dass Ifrundoch keinen Ärger bekommen hat.
Mir knurrt schon wieder der Magen, weshalb ich Ifrundoch und Rondrasil frage, ob wir nicht zu Mittag essen könnten, was die beiden bejahen. Im Gasthaus kläre ich auch Pjerow und Ugdan darüber auf, was ich in Erfahrung gebracht habe, während ich Blutwurst mit Marmelade esse. Ich hätte nicht gedacht, dass diese beiden Speisen so vorzüglich zusammen passen würden. Aber auch das Essen der anderen ist sehr lecker, ich kann es mir nicht verkneifen, von deren Tellern einen Bissen zu stibitzen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass ich mehr Appetit als sonst habe, aber mein Körper braucht ja jetzt auch weitaus mehr Energie als sonst, er muss schließlich nicht mehr nur mich alleine versorgen.
Ich werde bestimmt aufgehen wie einer von Mamas Hefeküchlein, ob Rondrasil mich dann überhaupt noch ansehen wird? Er wird mich bestimmt hässlich und abstoßend finden, so dick und rund. Ich muss versuchen, nicht ganz so viel zu essen, vielleicht hilft das ja ein wenig. Wenn das alles hier nicht so unglaublich lecker wäre.
Pjerow reißt mich aus meinen Gedanken, weil er mich erwartungsvoll ansieht. Auf meine Frage, was ich verpasst habe, antwortet er mir geduldig, dass er gerade vorgeschlagen habe, im Herrenhaus nach etwaigen Geheimgängen zu suchen und nachdem er das Buch über Geheimgänge damals von mir bekommen hat, hätte er gerne, dass ich bei der Suche behilflich bin. Ein wenig Ablenkung könnte nicht schaden, vor allem etwas körperliche Bewegung, damit ich nicht so schnell zunehme, wird mir sicherlich gut tun.
Ifrundoch teilt uns mit, dass er erst einmal im Gasthaus bleiben wolle, Tsadan etwas Gesellschaft leisten werde, weshalb auch Hemidane hierbleiben wird. Gemeinsam mit Kolkja, Rondrasil und Ugdan machen wir uns auf den Weg.
In der Eingangshalle, es stehen hier mittlerweile tatsächlich nur noch leere Gestelle, auf denen einmal Fleisch getrocknet haben muss, finden wir an der hinteren Wand eine Stelle, an der Pjerow und ich tatsächlich einen leichten Luftzug vernehmen können. Ich beginne damit, jeden Stein abzuklopfen, um einen Mechanismus zu finden, mit dem sich vielleicht eine Türe öffnen lässt und auch Pjerow sucht mit, überprüft eine in der Nähe stehende Rüstung genauer doch wir finden nichts.
Ugdan bietet sich an, als Geist hinter die Wand zu blicken und da es mittlerweile bereits dunkel ist, stimmen wir dem zu. Nach einigen Minuten kommt er zurück in seinen Körper und teilt uns mit, dass sich hinter der Mauer tatsächlich ein kleiner Ifirnschrein mit Altar befindet, dass er jedoch nichts genaueres sehen könnte, weil es dafür zu dunkel sei. Pjerow schlägt daraufhin kurzerhand einen Stein aus der Mauer und leuchtet mit seiner Lampe hinein, während Ugdan, wieder als Geist, sich gründlich umsieht.
Danach erzählt er uns, dass er einen ganz feinen Riss unterhalb der Altarplatte ausmachen konnte und vermutet, dass sich die Platte vielleicht abheben lässt, dies können wir jedoch nur herausfinden, wenn wir die Wand einreißen. Nur ohne Erlaubnis können wir dies eindeutig nicht tun und wer weiß, ob die Ifirnkirche darüber so erfreut ist. Pjerow bringt den Einwand, dass dies rein rechtlich immer noch ein Lehen von Tsadan ist, welches lediglich noch keinen neuen Bronnjaren bekommen hat und da wir im Auftrag von Tsadan handeln, wären wir im Recht.
Dies leuchtet ein und mit den Worten, dass er nur kurz die Alte informieren wolle, dass sie sich nicht erschrecken solle, wenn wir die Mauer einreißen, verschwindet er kurz. Rondrasil hat in der Zwischenzeit aus dem Schuppen zwei große Hammer geholt und als ich erkläre, dass auch ich helfen wolle, holt er noch einen dritten, kleineren Hammer für mich.
Gemeinsam gelingt es uns recht fix, die Wand einzureißen. Pjerow und Rondrasil machen sich daran, die schwere Platte wegzuschieben und auch ich packe mit an. Pjerow wendet ein, dass ich in meinem Zustand nicht so schwer arbeiten sollte, aber ich bin schwanger und nicht krank, ich werde doch wohl selbst noch am besten wissen, was gut für mich ist, oder? Doch auch zu dritt gelingt es uns nicht, die Platte zu bewegen, erst als Ugdan sich dazu entschließt, auch anzupacken, schaffen wir es, einen versteckten kleinen Raum aufzudecken, in dem verschiedene Bündel liegen.
Das erste beinhaltet ein komplettes Firunornat, welches der Machart nach Jarrlak passen könnte, zumindest wenn die Statue vor dem Tempel tatsächlich lebensecht ist. Das zweite Bündel beinhaltet ein Ornat aus Schwanenfedern, offenbar das erste Ifirnornat überhaupt, aber es hat nicht Jarrlak gehört, es ist wesentlich kleiner gehalten, aber für einen Mann geschneidert worden. Einen kleinen Mann mit breiten Schultern.
In einem weiteren Bündel sind etliche Tagebücher von einem Firungeweihten, Meister Firnfrost, die etwa eintausend Götterläufe alt sind sowie einem Dolch, der latent magisch ist, wie ein Odem von mir ergibt. Er ist wohl aus dem gleichen Material geschaffen wie die Pfeilspitzen, aus Schwarzstahlt und, wenn mich mein Wissen nicht täuscht, mindestens 50.000 Batzen wert. Aber kein Geld der Welt kann meinen Mann ersetzen. Ich stelle gerade wieder einmal fest, wie gut ihm sein Ornat steht, wie attraktiv er darin aussieht.
Gemeinsam gehen wir zurück ins Wirtshaus und dort sehe ich Tsadan, der sich volltrunken an Ifrundoch angelehnt hat und wie ein Schlosshund heult und um Nadira trauert. Offenbar ist er endlich eine Stufe weiter bei seiner Trauer gekommen, das wäre sehr gut für ihn, er muss Nadira loslassen können, sie gehen lassen, damit er genesen kann. Noch bevor ich ihn darauf ansprechen kann, übergibt er sich in einem Schwall auf den Tisch, was Ugdan dazu veranlasst, Ifrundoch zu bitten, ihn auf sein Zimmer zu bringen. Dies sei kein geeigneter Anblick des Grafen für die Leute hier.
Auch ich bin müde, weshalb ich Rondrasil, meinen starken und mutigen Rondrasil, an der Hand nehme und auf unser Zimmer ziehe, mich eng an ihn kuschle.
05. Peraine 1020 BF
Wieder habe ich schlecht geträumt und wieder hat es die Geburt meines Kindes betroffen. Dieses Mal war ein Tsaschnitt nach Kowaljewa notwendig doch anstatt eines Magiers stand auf einmal die Hexe Alwinja vor mir. Jene Hexe, die mit ihrer Flöte in Festum Tod und Verderben über so viele Menschen gebracht hat. Ich war wie gelähmt und konnte doch spüren, wie sie mir den Bauch aufgeschnitten hat. Konnte spüren, wie sie ihre Hände in meinen Bauch gegraben hat und hörte ihre geflüsterten Worte überdeutlich. Duglumspest.
Dieses Mal bin ich, seit langem, mal wieder mit einem Schrei aufgewacht, schweißgebadet, kurzatmig. Rondrasil hat Recht, ich muss von Kolkjas Einfluss weg, zumindest bis unser Kind gesund zur Welt gekommen ist. Wenn ich mich nicht verrechnet habe, dann müsste ich jetzt in der elften oder zwölften Woche sein, im dritten Mond von neun. Ich muss noch sechs Monde durchhalten.
Unten beim Frühstück fällt mir auf, dass die Katzen von Ugdan gar nicht mehr werden. Doch das liegt garantiert nicht daran, dass es hier keine Katzen gibt, denn auch hier sehe ich immer mal wieder die eine oder andere, doch diese scheinen von Ugdan kaum Notiz zu nehmen. Sehr seltsam. Mindestens so seltsam wie die Tatsache, dass ich regelmäßig zähle, wie viele Katzen um ihn herum streichen.
Ugdan erzählt uns, dass er sich mit Ilonen unterhalten hat in der Nacht. Laut Ilonen hat sich Ifirn immer sehr liebevoll über Jarrlak geäußert. Liebevoll und sehr traurig. Ilonen hat Jarrlak als Kind einmal besucht und kurz darauf hat er sich dann erhängt. Sie hat erzählt, dass er entsetzt gewesen ist, als sie vor ihm stand und ihm sagte, dass er ihr Vater sei. Laut ihrer Mutter, Ifirn, hat diese ihn in Oblomon vor den Shakagra gerettet, als diese seinen Stamm ausgelöscht hatten und sie hatten nur diese eine Nacht, die sie zusammen sein konnten. Danach hat sie ihm die Eisrose gegeben.
Auf Nachfrage Ugdans hat Ilonen ihren Vater so beschrieben, wie die Statue auch aussieht. Bei ihrem Treffen soll sich Jarrlak so sehr erschreckt haben, dass er zur Seite gesprungen sei, als sie ihn umarmen wollte, es wirkte beinahe so, als hätte er Angst vor Ilonen gehabt. Ilonen hat laut Ugdan auch gesagt, dass er nicht als Geist gekommen sei, als sie ein paar Mal während der Namenlosen Tage hier gewesen ist, um ihn zu fragen, was sie falsch gemacht habe.
Auf die Frage, warum er genau an jenen unheiligen Tagen erscheint, hat sie wohl geantwortet, dass dann der Schleier zwischen den Sphären am dünnsten sei, es ihm nur dann möglich sei, sich zu zeigen. Ifirn soll Ilonen auch gesagt haben, wenn alles schief geht, das schief gehen kann, dann würde in Oblomon Hilfe zu finden sein.
Laut den Ifirngeweihten, die Ilonen damals befragt hat, verlangt der Geist Jarrlaks nach der einen Frage, die er nicht beantworten kann und die ihm nie gestellt wird. Welche Frage kann das sein?
Ilonen hat weiter erzählt, dass sie selbst auch bereits versucht hat, an das Erbe ihres Vaters in der Stadt der Toten zu gelangen, dass ihr der Zugang jedoch verwehrt worden sei, weil es der letzte Wunsch Jarrlaks gewesen sei, dass nur Borongeweihte Zugang zu seinen Habseligkeiten bekämen. Es gäbe daher lediglich zwei Möglichkeiten, an die Sachen zu kommen. Die erste wäre, sich heimlich, hinter dem Rücken der Boroni Zutritt zu verschaffen, was einer Grabschändung und einem Götterfrevel gleichkäme, die andere Möglichkeit wäre, während der Namenlosen Tage, wenn kein Boroni in der Stadt der Toten ist, dorthin zu gehen. Doch auch dies, die bloße Anwesenheit an jenen Tagen, käme einem Frevel gleich. Beides also nicht unbedingt die besten Ausgangsbedingungen für uns.
Tsadan, der reichlich verkatert wirkt, hört sich dies alles regungslos an und ich beschließe, ihm meine Aufzeichnungen zu zeigen. Das Alaani, welches ich abgemalt habe. Tsadan kann es tatsächlich entziffern, dort steht immer wieder „Es tut mir leid, bitte vergib mir.“ Warum hat Jarrlak sich bei Firun immer wieder entschuldigt? Wofür hat er sich entschuldigt? Und warum hatte Jarrlak Angst vor Ilonen?
Wir überlegen, ob Jarrlak vielleicht gar nicht Ilonens Vater war oder ob Ifirn nicht Ifirn war, also später, als er durchs Bornland zog, ob sich jemand vielleicht für Ifirn ausgegeben hat. War Ifirn vielleicht deswegen traurig, weil ihr Geliebter einer Scharlatanin aufgesessen ist? Aber warum hat sie dann das Missverständnis nicht aufgeklärt? War Jarrlak vielleicht gar nicht Jarrlak? Wer war er dann?
Noch während wir diesen Fragen nachgrübeln, kommt ein abgehetzter Adept der Norburger Akademie ins Wirtshaus gestürzt. Er ist total verschwitzt und sieht sich suchend um. Als er mich erblickt, eilt er auf mich zu und teilt mir mit, dass er mir einen hochoffiziellen Brief überreichen müsse. Auf meine Frage, warum er so nassgeschwitzt sei, antwortet er mir, dass er den ganzen Weg hierher gerannt sei, weil er die Kutsche verpasst habe. Dann lässt er sich schwer atmend auf die Bank neben uns fallen und übergibt mir einen Brief, der das Siegel der Akademie trägt.
Ich breche das Siegel und sehe, dass der Brief von Maschdawa geschrieben worden ist. Sie teilt mir mit, dass Bisminka, die sie eigentlich als ihre Stellvertreterin ernannt hat, noch am Tag ihrer Abreise verschwunden sei, dass sie eine dringliche Angelegenheit für ihre Schwesternschaft regeln müsse, ebenfalls in den Krieg ziehen müsse, weshalb Maschdawa notfallmäßig mich zur Spektabilität ernannt habe.
Meine Gedanken überschlagen sich förmlich und offenbar habe ich den Brief laut vorgelesen, denn mit einem Mal prasseln die Ratschläge von Pjerow und Ugdan nur so auf mich herein, dass sie mir helfen können, die Akademie zu leiten, dass es auch nur eine andere Art von Handelsunternehmen sei. Ich weiß gar nicht, was ich antworten soll, mir fehlen die Worte. Ich wollte nie Spektabilität sein, wollte nie diese Verantwortung haben, die jetzt doch auf meinen Schultern lastet.
Der Adept teilt mir mit, dass meine Anwesenheit an der Akademie zwingend vonnöten sei oder ich, sollten wir hier noch länger brauchen, eine Stellvertretung benennen müsse. Mit diesen Worten drückt er mir noch den Siegelring der Akademie in die Hand und ich überlege, wen ich mit dieser Aufgabe betrauen könnte. Ich denke, ich könnte Rikbert Schelling mit dieser Aufgabe betrauen. Er ist zwar kein Magier, aber ein fähiger Perainegeweihter, mit dem die Akademie schon von jeher eng zusammengearbeitet hat und während ich dies in einen Brief schreibe, teilt mir der Adept weiter mit, dass Jaschwinja sich nicht füttern lassen wolle, weil sie selbst ohne Hände ja nicht essen könne, dass sie aber auch keinerlei Hilfsmittel akzeptieren würde und daher schon bedenklich an Gewicht verloren hätte. Ich entschließe mich dazu, einen Absatz in meinen Brief hinzuzufügen, in dem ich Jaschwinja darum bitte, sich helfen zu lassen, bis wir eine andere Möglichkeit gefunden haben, ihre Selbständigkeit wiederherzustellen.
Pjerow wechselt, nachdem ich mit Schreiben fertig bin, das Thema und teilt uns mit, dass er sich die Tagebücher des Firungeweihten Firnfrost angesehen habe. Darin sei unter anderem zu lesen gewesen, wie er nach Oblomon gekommen ist, er hat auch von seiner Prüfung erzählt und einige kleinere Anhaltspunkte bezüglich der Lage Oblomons konnte er dem Tagebuch entnehmen. Zum Beispiel, dass ein alter Elfenturm von der Stadt aus zu sehen gewesen sei.
Im letzten Band war am 30. Rahja 20 BF zu lesen, dass ein junger Nivese Einlass in Oblomon verlangte, ein „seltsamer Kerl mit diesem Gewand aus Schwanenfedern.“ Danach wurde nichts mehr geschrieben und in mir keimt ein Verdacht auf. Die Ifirnrobe, die einem kleineren Mann gehört haben muss, war dies die Robe Jarrlaks? War der Jarrlak, der hier angekommen ist, Firnfrost? Ich bitte Pjerow um eins der Tagebücher und vergleiche die Handschrift und tatsächlich, sie stimmt überein. Firnfrost und der Jarrlak, der diesen Tempel hier gebaut hat, sind ein und dieselbe Person. Was hat Firnfrost Jarrlak angetan? Irgendetwas muss passiert sein und das würde erklären, warum Ifirn Firnfrost nicht vergeben konnte, hatte er ihr doch schließlich Jarrlak genommen.
Diese Erkenntnis wird die Ifirnkirche in ihren Grundfesten erschüttern, ihr ganzer Glauben basiert auf einem Betrüger. Wir sollten genau abwägen, wann und wem wir von unseren Vermutungen erzählen, denn gesicherte Beweise haben wir bislang nicht viele.
Noch während mir dieser Gedanke durch den Kopf geht, geschieht eine Wandlung bei Tsadan. Sein Kopf, den er die letzten Wochen immerzu hat hängen lassen, geht mit einem Ruck nach oben und ein beinahe wahnhaftes Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. Er meint zuerst, dass wir Daanje fragen sollten, ob er die Kutsche noch einmal für uns rufen könne, damit wir nach Oblomon gelangen können, denn der Turm, in dem wir damals Algunde zur Strecke gebracht hätten, sei garantiert jener Elfenturm, den man von Oblomon aus sehen könne.
Weiter sagt er, dass wir zu Firnfrosts Grab müssten, um die Habseligkeiten an seinen rechtmäßigen Besitzer, die Ifirnkirche, zurückzugeben, bevor er sich völlig unvermittelt an Ugdan wendet und ihn fragt, wie weit er mit seinen Forschungen bezüglich Nadira gekommen sei. Ich bin verwirrt, von welchen Forschungen redet Tsadan da? Sein Blick ist eiskalt, wahnsinnig und er ignoriert meine Frage völlig, wendet sich vielmehr an Ifrundoch und erklärt ihm, dass neben Nadiras Seele auch Jaminkas Seele bei Kolkja sei und dass er Ugdan damit beauftragt habe, einen Weg zu finden, um die Seele seiner Verlobten zu befreien.
Dazu müsse Ugdan lediglich einen neuen Körper für sie erschaffen und während Ugdan noch versucht, sich aus der Situation herauszureden, etwas davon faselt, dass er gründliche Forschungen machen müsse, nichts überstürzen könne, weil er nur einen einzigen Versuch habe, stürmt mein Mann wütend aus dem Wirtshaus.
Ich unterdrücke den Impuls, ihm nachzugehen, entschließe mich vielmehr dafür, Ugdan zur Seite zu nehmen und ihn zu fragen, was in aller Götter Namen Tsadan da redet und was für götterungefällige Forschungen er da betreibt, er wisse doch selbst ganz genau, dass die Seele von Nadira nicht mehr da sei. Ich drohe Ugdan damit, dass, wenn er Tsadan keinen reinen Wein einschenkt, ich ihm sagen müsse, dass sein Vorhaben zum Scheitern verurteilt sei, woraufhin Ugdan mir auf den Kopf zu sagt, dass dann ein weiterer Krieg ausbrechen würde.
Ich solle mir Tsadan doch einmal ansehen, ich müsse doch den Wahnsinn in seinen Augen erkennen. Er sei derjenige, der versuche, die Situation möglichst lange heraus zu zögern, damit Tsadan nicht völlig dem Wahnsinn anheimfallen würde. Außerdem wolle Ugdan auch seinen Körper retten und die Seele Algundes loswerden, irgendeinen Weg müsse es schließlich geben. Und gerade mir müsse schließlich daran gelegen sein, keinen weiteren Krieg auszulösen, ich sei doch schließlich eine pazifistische Norburgerin.
Auf meine Frage, warum er sich um das Bornland scheren würde, er sei ja schließlich noch nicht einmal von hier, antwortet er mir, dass er nun einmal hier sei, sich deswegen darum scheren würde und dass er nicht von Kolkja weg könne. Ich werfe ihm die Frage an den Kopf, warum er dann nicht einfach Kolkja nimmt und sich aus dem Staub macht, wie es doch zu einem Schwarzmagier passen würde, woraufhin er erwidert, dass er aus Neugier hier bleiben würde.
Ich kann die Wut meines Mannes nachvollziehen, auch ich bin entsetzt, wütend, zornig und außer mir. Ugdan weist mich an, nach meinem Mann zu sehen, ihm zu sagen, was wir gerade besprochen hätten, er sei sicherlich vernünftiger als ich und würde einsehen, dass es im Moment keinen anderen Weg gäbe als das Spiel Tsadans mitzuspielen. Für wie dumm hält mich dieser Schwarzmagier eigentlich? Aber er hat Recht, ich sollte nach meinem Mann sehen und versuchen, einen klaren Kopf zu bekommen.
Ich finde Rondrasil draußen am See stehend, die Hände zu Fäusten geballt, die Ader an seiner Stirn tritt immer noch pochend hervor, wie sie es immer tut, wenn er sich beherrscht. Während ich ihm von dem Streit mit Ugdan erzähle, gehen wir erneut am Seeufer entlang und die friedliche Ruhe, die hier immer noch herrscht, sorgt dafür, dass sich unsere Gemüter ein wenig abkühlen. Irgendwie hat Ugdan ja sogar Recht, wenn wir Tsadan jetzt die Hoffnung darauf nehmen, dass er Nadira zurückbekommen kann, dann wird der Wahnsinn in ihm gänzlich hervorbrechen und ich mag mir nicht ausmalen, was dann passieren wird. Was macht man, wenn ein Graf völlig unzurechnungsfähig ist, seinen Verstand verliert? Und was macht vor allem ein Graf, der seinen Verstand verliert und zu allem in der Lage ist, alles tun würde?
Als wir zurück zum Wirtshaus kommen, kommt uns Tsadan bereits entgegen, immer noch dieses eiskalte, leicht wahnsinnige Grinsen im Gesicht, und teilt uns mit, dass es hier nichts mehr für uns zu tun gäbe, dass er jetzt so oder so besseres zu tun habe, dass insbesondere Ugdan besseres zu tun habe und wir daher umgehend aufbrechen werden. Dies teile ich dem Adepten mit, der dankbar neben Pjerow auf der Kutsche Platz nimmt, während ich schweigend hinten einsteige und sowohl Ugdan als auch Tsadan nur mit Blicken mustere. Ich muss meine Gedanken sortieren, analysieren, was hier gerade passiert ist. Wenn es mir nur nicht so schwer fallen würde, meine Gedanken zu sammeln, ich weiß nicht, was aus mir geworden ist.
Ich wünschte mir manchmal, dass ich noch im Gut Nuppenkehmen wäre, dass alles so wie früher wäre, andererseits, dann hätte ich meinen Rondrasil niemals kennengelernt. Wir waren uns so nah und doch so fern, weil wir aus zwei verschiedenen Welten kommen. Was soll ich nur tun?
Ich habe die komplette Reise über geschwiegen und gegrübelt, als wir abends erneut Ask erreichen. Wahnfried fragt den Adepten auf dem Kutschbock, ob er seinen Auftrag erfüllt habe und als dieser bejaht, antwortet er damit, dass dies gut wäre, weil er ihn dann nicht wieder jagen müsse. Hat Wahnfried dafür gesorgt, dass der Adept zu Fuß nach Jarrlak gekommen ist? Kolkja springt derweil aus der Kutsche und geht ohne Umschweife in die Küche zum Koch, aber darum kann sich Ugdan kümmern, ich suche, ohne etwas zu essen, das Zimmer auf, in welchem wir die Nacht verbringen werden, versuche mich damit abzulenken, meine Gedanken schriftlich niederzuschreiben.
Je häufiger ich mir durchlese, was ich geschrieben habe, umso verschwommener wird meine Sicht, meine Erinnerung, ich weiß nicht mehr, was gut ist und was schlecht. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich bin Spektabilität der Akademie in Norburg und muss ein Geheimnis vor dem Grafen bewahren, welches ihn sonst gänzlich dem Wahnsinn anheimfallen ließe. Tue ich das Richtige indem ich ihn belüge? Ist es denn tatsächlich eine Lüge, wenn er mich nicht explizit zur Seele Nadiras befragt?
Rondrasil reißt mich aus meinen Grübeleien, als er mir einen Arm um die Schulter legt. Ich habe sein Kommen gar nicht bemerkt. Er setzt sich zu mir und erzählt mir, dass er überlegt, ob er Ayla von Schattengrund einen Brief zukommen lassen sollte, sie über die Situation hier informieren sollte. Ich biete ihm an, selbst zu ihr zu gehen, woraufhin Rondrasil mir entgegnet, dass ich ihm nicht böse sein solle, aber dies würde er mir definitiv untersagen. Ich weiß nur nicht, ob er mir das verbietet, weil ich noch größere Schmach über ihn bringen würde oder ob er sich Sorgen darum macht, dass seine schwangere Frau eine solch weite Reise auf sich nehmen würde. Andererseits wäre ich so immerhin weit weg von Kolkja. Aber ich vermute, die Tatsache, dass mich meine Reise durch Kriegsgebiet führen würde, war mit ein Grund für sein Verbot.
06. Peraine 1020 BF
Dieses Mal habe davon geträumt, dass sich ein kleiner Duglum mit seinen Scheren aus meinem Bauch herausschneidet. Die Szenerie war so skurril, ich war noch nicht einmal schweißgebadet, als ich in der Früh hochgeschreckt bin. Stumpfe ich diesbezüglich jetzt auch ab?
Nach der Firunsandacht reisen wir weiter, ich habe noch immer keinen Appetit und während wir in der Kutsche sitzen, erzählt Ugdan uns, dass er nachts wieder mit Ilonen gesprochen habe. Er habe ihr unsere Erkenntnisse geschildert, woraufhin sie gesagt habe, dass das Vergessen um sie herum näherkommen würde. Ich frage mich, ob eine Viertelgöttin ebenfalls vom Vergessen betroffen wird.
Ilonen soll weiter erzählt haben, dass Oblomon nicht mehr existieren würde, weil sie es mit eigenen Augen gesehen habe. Ihre Mutter habe ihr zwar verboten, dorthin zu reisen, sie habe es jedoch trotzdem getan und dort gäbe es nur noch Tod, Ruinen und Shakagra. Einen toten Schacht, der in einen Berg hineinführt, niedergebrannte Häuser und Knochen. Nicht gerade sonderlich verlockend.
Ich lehne meinen Kopf an die kräftige Schulter Rondrasils, schließe die Augen und versuche an nichts zu denken, was mir jedoch nicht so recht gelingen mag. So abgebrüht ich im Schlaf offenbar langsam werde, so sehr setzen mir diese neuen Albträume zu. Ich habe Angst um unser Kind. Ich weiß nicht, wie ich es beschützen kann und das macht mir Angst.
Am frühen Nachmittag erreichen wir Norburg und bemerken bereits am Tor, dass auf dem Marktplatz ein Tumult herrscht. Als Pjerow einen der Büttel fragt, was hier los sei, antwortet dieser, dass ein neuer Praiot angekommen sei und gerade eine Ansprache auf dem Marktplatz halten würde. Als mein Mann dies hört, lässt er seine Fingerknöchel knacken und murmelt vor sich hin, dass der ihm gerade Recht käme, weshalb ich eine Hand auf seine Fäuste lege, versuche, ihn zu besänftigen.
Am Marktplatz angekommen sehen wir einen jungen Mann, vielleicht Ende zwanzig, Anfang dreißig Götterläufe, der der zurückhaltenden Menge gerade erklärt, dass er Norburg gemeinsam, zusammen wieder aufbauen wolle, dass er das Bornland gemeinsam wieder aufbauen wolle, dass er die Gefahr, die aus dem Norden und Süden kommt, bannen wolle. Die Reaktion darauf ist, verständlicherweise, zurückhaltend, zu frisch sind die Erinnerungen an Heliodan und als er geendet hat, geht Pjerow auf ihn zu.
Ich verstehe nicht genau, was er sagt, erst als Pjerow in Richtung Rondrasils und Ifrundochs deutet, wird mir klar, dass dieser Praiot offenbar uns alle kennenlernen möchte, denn gemeinsam kommen die beiden näher. Er stellt sich uns als Ucurian vor, seine kinnlangen blonden Haare verdecken nicht die Narbe in seinem Gesicht, die kurz vor seinem Auge aufhört, als hätte Praios selbst dafür gesorgt, dass er sein Augenlicht nicht verliert. Er sagt, dass er, noch vor Tsadan, die Helden Norburgs kennenlernen möchte und begrüßt nacheinander alle namentlich.
Ugdan erklärt er, dass er noch auf die Bestätigung der Akademie in Lowangen warte, ob er tatsächlich Ugdan von Lowangen sei, derweil wäre seine offizielle Bezeichnung innerhalb der Kirche nur „Das Konstrukt“, wenngleich er ihn mit Ugdan ansprechen wolle. Meinen Gatten bezeichnet er als den so ziemlich letzten aufrechten Rondrageweihten im Bornland, der sich auch nicht davor scheut, seiner eigenen Kirche auf die Füße zu treten, um seine eigene Meinung zu vertreten und auch Ifrundoch kennt er mit vollem Namen.
Dieser Mann verunsichert mich tatsächlich gerade ein wenig, woher hat er diese ganzen Informationen und noch während ich versuche, mich ein wenig hinter Rondrasil zu verstecken, wendet er sich bereits mir zu, beugt sich tief zu mir hinunter und gibt mir einen formvollendeten Handkuss. Das hat noch nie jemand gemacht. Er sagt weiter, dass es für ihn eine äußerste Ehre sei, uns kennenzulernen und dass er mit uns zusammenarbeiten wolle. Er werde in Heliodans Fußstapfen treten, wenngleich anders, als wir es vielleicht denken.
Heliodan habe die Praioskirche umfassend über die Geschehnisse hier in Norburg aufgeklärt und danach sei man seinem Wunsch nachgekommen, dass er an vorderster Front kämpfen wolle. Er sei wiederum hier in Norburg, weil er, zusammen mit ein paar Pfeilen des Lichts, für den Schutz der Akademie sorgen solle, da die Praioskirche jeden schützen würde, der Leute in die Schlacht gesandt hat. Ucurian bietet weiter an, seine Pfeile des Lichts ebenfalls dazu abzustellen, auf Kolkja zu achten, was Ugdan umgehend dankend ablehnt. Weiter schlägt er vor, dass man Kolkja tagsüber in der Stadt behält, während er sich nachts im Gut aufhalten solle. So würde eine Nachtschicht zur Bewachung reichen, die sich dann tagsüber im Gut ausruhen könnte. Warum sind wir noch nicht auf diese Idee gekommen?
Als er die Schlacht erwähnt, muss ich an Narena denken und offenbar habe ich erneut laut gedacht, denn Ucurian äußert diesbezüglich, dass er Narena sehr gerne zu den Begebenheiten in der Stadt der Toten befragen würde, die sich vor einiger Zeit während der Namenlosen Tage dort ereignet haben. Als er dies sagt, habe ich wieder die Bilder dieser Vision vor dem geistigen Auge, als ich, als Narena, gesehen habe, was ihr widerfahren ist.
Gedankenverloren spiele ich mit dem Blatt, welches ich von Maschdawa bekommen habe und muss an die Adepten denken, die zur Schlacht gezogen sind. Ich weiß nicht, ob ich etwas gesagt habe oder ob Ucurian selbst das Thema angeschnitten hat, er meint jedoch gerade, dass er versucht habe, einige Einheiten für die Lazarette abstellen zu lassen, um die Adepten schützen zu lassen, dass aber die Rondrageweihten an vorderster Front kämpfen würden, die Golgariten nur eine Handvoll abgestellt hätten und dass die Bannstrahler, die sich angeboten hätten, abgelehnt worden seien. Ich bete zu den Göttern, dass es genug tapfere Männer und Frauen gibt, die die Lazarette sichern.
Ucurian wendet sich erneut Pjerow zu und fragt diesen, ob er in einer seiner Tavernen unterkommen könne, woraufhin dieser das Hotel am Markt vorschlägt. Ucurian lehnt dies jedoch mit den Worten ab, dass er etwas Bodenständigeres bevorzugen würde, weshalb er das Angebot in der Taverne Am Badehaus unterzukommen dankend annimmt. Bevor er sich zum Gehen wendet, lädt er uns alle noch für den Abend zu einem Gespräch in die Taverne ein, es gäbe einiges zu besprechen.
Mir wird das Ganze gerade zu viel, ich brauche vertraute Umgebung um mich, weshalb ich Rondrasil an der Hand nehme und ihn zum Marbidenkloster ziehe. Dort angekommen werde ich gefragt, ob ich Meister Robak sehen wolle, was ich bejahe, woraufhin man mich durch sein Labor zu seinem privaten Zimmer führt. Ich bin verwundert, ihn nicht im Labor selbst anzutreffen, doch noch bevor ich klopfen kann, reißt er bereits die Tür auf und bittet uns überschwänglich hinein, gießt uns einen Tee auf und erzählt, dass er einen Durchbruch erzielt hat.
Es ist ihm tatsächlich gelungen, ein Mittel zu entwickeln, welches die Verwandlung eines Lykantrophen an Vollmond aufzuhalten vermag. Zwar ist der Proband dann immer noch verwirrt und hat Gedächtnislücken, Robak beschreibt den Zustand ähnlich dem, in dem Laske sich damals immer um Vollmond herum befunden hat, aber dies ließe sich ja vielleicht mit einem Sedativum beheben. Auf meine Frage, warum er nicht einfach so ein Sedativum verwenden würde, antwortet er mir, dass dies bei vollzogener Verwandlung gerade einmal fünf Minuten anhalten würde, selbst das stärkste Gift vermag einen Werwolf nicht zuverlässig zu töten.
Er erzählt weiter, dass seine Forschungen sich noch im Anfangsstadium befänden, aber dass er quasi eine Verbindung zwischen sich und dem Probanden aufzubauen vermag, die wiederum dafür sorge, dass die Verwandlung aufgehalten würde. Auf meine Frage, woraus dieses Mittel bestünde, antwortet er, dass auch sein eigenes Blut ein Bestandteil sei. Ich bin ein wenig irritiert, andererseits ist Robak ein Erzwerwolf, der vermutlich über weitaus mehr Fähigkeiten verfügt als ein normaler Werwolf. Wessen wenn nicht sein Blut sollte sonst dazu in der Lage sein, diesen Erfolg zu haben.
Als ich Robak anbiete, bei seinen weiteren Forschungen zu helfen, bedankt er sich bei mir und sagt, dass ich ihm ein, zwei Adepten schicken solle, die alchimistisch begabt sind, weil ich als neue Spektabilität dazu jetzt keine Zeit mehr haben werde. Diese Aussage versetzt mir einen kleinen Stich, ich wollte niemals so viel Verantwortung haben, ich wollte vor allem niemals so wenig Zeit haben und doch ist genau dies geschehen. Wie dem auch sei, Robak fährt fort, dass mein Labor mittlerweile auch eingetroffen sei und als ich überlege, ob man dies im Rondratempel aufbauen könnte, fällt Rondrasil mir ins Wort, dass dies nicht möglich sei.
Aber ich besitze ja noch ein Haus, in welches wir vielleicht wieder einziehen sollten. Weder muss Rondrasil nachts im Tempel anwesend sein, noch ich in der Akademie. Außerdem wäre das Haus von beiden Orten nicht weit entfernt und ein neutraler Ort wäre wohl am besten geeignet für unser Kind. Es soll schließlich so unbelastet und unvoreingenommen wir nur irgend möglich aufwachsen. Vor allem sicher.